Muskelmaedels als ausschließliches Phänomen der jüngeren und der heutigen Zeit, dazu als Folge der modernen Ernährungs- und Trainingsmethoden - wer das nur so sieht, der gehört zu der gegenüber der Geschichte ignoranten Fraktion. Für die stellt alles Relevante eine Erfindung von heute dar und sind die jetzt lebenden Menschen auch klar besser als die gestrigen. Körperlich, politisch, ethisch, moralisch -- und genau hier liegt die Hybris: Natürlich basiert alles Heutige auf etwas Gestrigem, und natürlich waren die Altvorderen ebensowenig besser und schlechter als jeder, der heute lebt. Und bei allem Gejammere à la "Was soll aus der heutigen Jugend mal werden?" hat es fast jede Generation doch noch irgendwie gepackt, ihr Leben zu gestalten. Und ehe ich jetzt ganz abschweife, will ich hier bei muskelmaedels.blogspot.de wieder den Bogen schlagen zum Anlass meines Geschreibsels. Nämlich dem Umstand, dass es natürlich auch schon früher muskulöse und starke Frauen gegeben hat, die ihre Körperkraft gezielt trainiert und damit auch ihre Muskeln aufgebaut haben.
Eine war Ivy Elizabeth Russell oder Ivy Elizabeth Russel (ich schreibe den Nachnamen in diesem Beitrag mit zwei "l", also anders als in einem älteren superkurzen Posting von mir). Eine Britin. Sie war sehr stark. 1925, also im Alter von 18 Jahren und dazu mit einem Körpergewicht von 125 pounds (also knapp 57 Kilogramm), hatte ihr Training solche Fortschritte erreicht, dass sie im Stoßen eine Hantel von erstaunlichen 80 Kilogramm oder 176 pounds zum Himmel streckte. Längst war sie stärker als ihr Lehrer, immerhin ein ehemaliger britischer Soldat und ein Profi-Trainer!
In den zwei Jahrzehnten ihrer Blütezeit gab Ivy Russell viele gewichtheberische Vorführungen auf den britischen Inseln. Eine ihrer registrierten und von Zeitschriften wie "Health and Strength" vermeldeten Topleistungen beim Stoßen lag bei 87,5 Kilogramm (193 pounds) und bei etwas mehr als 186 Kilogramm (410,5
pounds) beim Kreuzheben. Ihr eigenes Gewicht betrug da - anno 1930 - gerade mal 61 Kilogramm (134 pounds). Bei anderer Gelegenheit absolvierte sie beim tiefen Kniebeugen 14 tiefe Wiederholungen mit einer Hantel von 180 pounds, also gut 81,5 Kilogramm.
Überhaupt war sie in Sachen Kraftsport sehr engagiert. Sie setzte 1932 eine Frauensparte bei der etablierten British Amateur Weightlifting Association durch: Im Mai jenes Jahres veröffentlichte "Health & Strength" einen Leserbrief von Ivy Russell, indem sie für die Zulassung von Gewichtheberinnen und um das Ausrichten entsprechender Wettkämpfe eintrat. In den Worten der im texanischen Austin lehrenden Historikerin Jan Todd: "Wahrscheinlich ist dies überhaupt der erste Versuch einer Frau, für athletische Chancengleichheit auf dem Gebiet des Amateurgewichthebens einzustehen." Und im selben Jahr stand Ivy Russell dann beim ersten offiziellen Wettkampf auf dem sprichwörtlichen Siegertreppchen, nachdem sie eine Hantel von 137 Kilogramm oder 300 pounds zur Hochstrecke gebracht hatte.
Wobei sie trotzdem durchaus anders aussah als viele kraftbetonte Athletinnen, die man bislang vom Zirkus, vom Jahrmarkt und aus dem Varieté kannte. Waren diese Frauen oft groß und dazu durchaus prall, mitunter sogar richtig massig, so war Ivy Russell durchaus größer als viele Frauen jener Jahre, aber vergleichsweise zierlich, da vollkommen austrainiert.
Will heißen: Ihr Körperfettanteil lag trotz ihrer Muskelmasse viel niedriger als bei den anderen Muskelmaedels jener Tage. Den wenigen von ihr erhaltenen Fotos nach zu schließen, war sie das, was heutige Bodybuilder "definiert" nennen. Dieses freilich, ohne dabei in den Fettreduzierungsexzess zu verfallen, der den heutigen Sport beherrscht. Eine interessante Frage (wenigstens für mich) lautet, ob sie das einer entsprechenden Veranlagung oder eben ihren Trainingsmethoden und einer ausgeklügelten, genau abgestimmten Diät zu verdanken hatte. Wenn es das zum Schluss Genannte gewesen sein sollte: Dann war Ivy Russell eine der ersten wirklichen Bodybuilderinnen im modernen Sinne. Oder wie es Jan Todd formuliert, "ein neuer Archetyp für Gewichtheberinnen".
Man darf annehmen, dass Ivy Russells Äußeres weitgehend auf ihr Training zurückzuführen ist. Eine Athletin wie die um 1900 weltberühmte Katie Sandwina mochte ein Klavier hochheben oder mit einem Arm mehrere Männer stemmen können. Aber diese pralle teutonische, in jungen Jahren zudem wunderschöne Wuchtbrumme wog in Spitzenzeiten gut und gern ihre 90 Kilogramm, sie trank zudem - wie viele deutsche Kraftathleten - regelmäßig ihr Bier. Leichtathletische, auf schnelle und reaktive Beweglichkeit ausgelegte "Skills" wie Laufen, Sprinten, Fechten standen bei der Großen Sandwina hingegen sicher nicht auf dem Programm. Wohl aber bei Ivy Russell. Sie war nämlich eine Rundum-Athletin. Man kann sich vorstellen, dass sie sich heute beim Crossfit und auf der Tartanbahn ebenso wohlgefühlt hätte wie beim Bodybuilding.
In angekleidetem Zustand dürfte sie daher auch alles andere als wuchtig gewirkt haben. Allenfalls die breiten Schultern werden aufgefallen sein und vielleicht mögen manchem unter dem Saum der damals üblichen, halblangen Röcke noch die kraftvollen, wie aus Holz geschnitzt wirkenden Waden in den Blick geraten sein. Falls überhaupt. Aber unter den für jene Zeit gängigen Leinenblusen und Tweed-Kostümen gab es einen Body mit spektakulär ausgebildeten Muskeln, hart, voluminös, straff, stark. Richtig stark.
Am 9. Oktober 1937 schrieb die Zeitschrift "Pearson’s Weekly" über sie, ihr Bizeps habe denselben Umfang wie derjenige des seinerzeit legendären deutschen Schwergewichtsboxers Max "Der Schwarze Ulan vom Rhein" Schmeling, ihre Waden seien aber noch elf, zwölf Millimeter dicker als seine. Natürlich durfte der Vergleich ihrer Maße mit denjenigen von Schmelings berühmtestem Gegner, Joe "The Brown Bomber" Louis nicht fehlen - ihn übertraf sie demzufolge beim Oberschenkelumfang um gleich einen Inch, also zweieinhalb Zentimeter. Und das alles bei einer Größe von 167 Zentimetern und einem Gewicht, das sich zwischen 57 und 61 Kilogramm bewegte: Inwieweit das damals wem geschmeichelt hat oder nicht, sei dahingestellt. Ich sage: "Wow!"
Kein Wunder, dass nicht nur ich heute so reagiere. Viele Männer damals taten das auch! Ivy Russell war nämlich gertenschlank, straff und superfit. Aber anders als viele moderne Athletinnen hatte sie noch eine unübersehbare Oberweite; zu ihrer weiblichen Ausstrahlung kam dann noch eine trotz ihrer auf viele Zuschauer unglaublich wirkenden Kraft ein extrem bescheidenes, ja zurückhaltendes Auftreten.
Ivy Elizabeth Russell kam 1907 in der südlich von London gelegenen Stadt Croydon zur Welt - mit einem Gewicht von nur anderthalb Kilogramm, um zu einem Mädchen mit entsprechender Neigung zur Kränklichkeit heranzuwachsen. Dennoch oder deswegen hatte sie von Jugendtagen an ein Interesse an athletischer Betätigung, war eine leidenschaftliche Schwimmerin und trat im Alter von 12 Jahren einem örtlichen Gymnastik-Club bei.
Einen Rückschlag musste sie mit 14 Jahren verkraften, als sie massive Atemwegsprobleme bekam und in deren Folge Asthma oder Tuberkulose (je nachdem, welcher Quelle man vertrauen darf). Jedenfalls bildete das wohl einen Grund dafür, dass sich die bislang körperlich äußerst aktive junge Dame nach einer Betätigung umschaute, die sich mit dieser Beeinträchtigung vereinbaren ließ. Und so kam sie unter Anleitung des ehemaligen Armeeausbilders und auf die Reha von Invailden und kranken Kindern spezialisierten A. E. Streeter zu dem, was in der damaligen englischen Welt "Physical Culture" und in der deutschen "Körperertüchtigung" hieß. Sprich: Ivy Russell begann mit Bodybuilding und Hanteltraining.
Dnn begann ihr Aufstieg zu einer der berühmtesten "Strongwomen" der 1930er Jahre. Strongwoman? Das ist auch der im Deutschen übliche Zirkus-Fachbegriff für eine Frau, die Kraftdemonstrationen und -vergleiche vor Publikum absolviert und dabei durch ihre außerordentliche Stärke auch gern die anwesenden Männer düpiert. Bei solchen Vorführungen hob Ivy Russell einigen im Web kursierenden Texten zufolge schon mal mehrere Männer zugleich an und hielt sie dann oben.
Athletische Erfolge hin oder her, es stellt sich täglich die Frage nach dem Unterhalt. Auch damals, auch für Ivy Russell. Weswegen die junge Frau mit den dunklen, glatten und im Stil der 1920er Jahre recht kurz geschnittenen Haaren zuerst einmal jenen Beruf ausübte, dem Tausende anderer Frauen auch nachgingen - sie arbeitete als Hausmädchen. Doch dann erkannte sie, dass sie durchaus von ihrer außerordentlichen Kraft leben konnte. Zum Kraftsport und den entsprechenden Vorführungen trat dann das Ringen hinzu, in dem Fall das Catchen (das englische Wort "Wrestling" steht ja für beides). Auch in der Sparte hatte sie sich flugs als erfolgreich erwiesen, so dass sie daraus ihren Beruf machte.
In jenen Jahren leitete sie ein Trainingszentrum in Croydon. Und widmete sie sich in ihrem 1934 eröffneten "Victory Ladies Wrestling Club" darin, Frauen entsprechend zu coachen. Sie selber schaffte es, durch den Sieg über alle Gegner den Meistertitel zu erringen. Auch setzte sie sich beim zuständigen Verband, der "British Amateur Weightlifting
Association", erfolgreich dafür ein, Frauen als Vollmitglieder zuzulassen und Wettkämpfe für Frauen abzuhalten.
Natürlich ranken sich auch einige Legenden von der Sorte um dieses Muskelmaedel, wie sie Burschen meines Schlages nur allzugern hören: Eines Tages begann ein Mann, Ivy Russell zu verpotten, als er von ihren Tätigkeiten als Ringerin hörte. Zwar entgegneten andere Männer dem vorlauten Herrn, jede Frau solle wissen, wie man ringt. Doch ärgerte sich Ivy Russell über diesen Vorfall dermaßen,dass sie den Mann in ihr Gym einlud. Dort nahm sie ihn kurzerhand in ihre kraftstrotzenden Arme und begann zuzudrücken - so lange und so fest, bis der Bursche um Gnade winselte und darum bat, ihn wieder loszulassen ---ach ja, herrlich!
Und dann? Dann verliert sich ihre Spur im historischen Nirwana. Alle für diesen Text konsultierten Berichte konzentrieren sich ausschließlich auf ihre Rekordleistungen und damit ihre Sportkarriere. Was dann aus ihr wurde? Ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder in Büchern, Artikeln, genealogischen Seiten und Online-Fanzines gelesen und gefragt und im Web danach gesucht. Es war nichts festzustellen, außer der leider durch nichts belegten Angabe, dass sie kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs einen "Doktor aus London" geheiratet und mit ihm auch nach London gezogen sein soll.
Irgendwo kursiert auch die Angabe 1989 als Angabe ihres Todesjahres. Aber das sei mit allem möglichen Vorbehalt angegeben, da ich keine valide Quellenangabe gefunden habe. Also muss man da achtgeben, zumal es ja mehrere Trägerinnen dieses Namens gab/gibt. Wie obskur das Schicksal der Strongwoman Ivy Russell leider ist, sieht man schon an dem erwähnten Umstand mit den zwei Schreibweisen für den Familiennamen unseres Muskelmaedels, "Russel" und "Russell" (wobei die letztgenannte Variante mit den zwei "l" wohl die üblichere Schreibweise des alten englisch-normannischen Namens ist. Der geht auf ein altes nordisches Wort für "rot" zurück, wenn mich meine Erinnerungen an die Studienzeit nicht trügen; auch ein schottischer Clan heißt Russell).
Ein oder zwei "l", egal: Wenn jemand - und das sei daher extra betont - zuverlässige Angaben über Ivy Russells weiteren Lebenslauf hat: Bitte mitteilen. Und wer noch schönere, höher auflösende, bessere und andere Bilder hat: Werden auch gern genommen. Denn es gibt beklagenswerterweise nicht viele Fotos von ihr. Die bekannten Bilder von Ivy Russell, zum Beispiel in der Pose einer Läuferin beim Start, beim Diskuswerfen oder mit einem Speer, stammen laut den Recherchen des Bodybuilding-Historikers David Chapman (Autor des empfehlenswerten Buches "Venus with Biceps") alle von dem schottischen Fotografen Ron Rennie und wurden laut Chapman 1932 aufgenommen. Also: Die Kommentarfunktion ist aktiviert.
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